„Ich verstehe es nicht“ – Ich glaube es nicht

„Ich verstehe es nicht“

titelt Tagesschau.de und zitiert den Bundesvorsitzenden des Deutschen Hausärzteverbands Ulrich Weigeldt:

… „Die Bereitschaft ist da, die Logistik steht, die Lieferketten stehen.“ Pilotprojekte hätten gezeigt, dass es möglich sei, alle verfügbaren Impfstoffe auch in der hausärztlichen Praxis zu impfen. „Ich verstehe es nicht“, sagte Weigeldt. „Weswegen müssen wir jetzt warten? Auf was?“ Er warf der Politik vor, sie würde die Impfzentren privilegieren. Die Menschen würden sich aber lieber beim Hausarzt impfen lassen.

Tagesschau.de –

Ich glaube es nicht,

dass der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes so dumm ist, dass er nicht versteht, worum es in der Substanz geht; ich gehe davon aus, dass er die Bevölkerung und die Politiker vorsätzlich für dumm verkaufen will.

„Die Bereitschaft ist da, die Logistik steht, die Lieferketten stehen.“

Diese Aussage ist schlichtweg unzutreffend. Die Lieferketten sind erheblich beeinträchtigt und alles andere als stabil; die Aussage des Standesvertreters ist eine sehr dreiste Behauptung – oder Weigelt hat keine Ahnung, was man unter einer Lieferkette versteht. Was Weigelt unter den gegenwärtigen Umständen mit der ’stehenden Logistik‘ meint, bleibt sein Geheimnis; was er mit ‚Bereitschaft‘ genau meint, geht aus der Meldung nicht hervor. Es wäre vielleicht eine interessante Idee, sich öffentlich dazu zu äußern, zu welchen konkreten ökonomischen Bedingungen und mit welcher Logistik – vom Anfang der Lieferkette bis zur Einbestellung der Impflinge, dem Management der Warteschlangen vor der Praxis, der Aufklärung der Impflinge und schließlich der Applikation der Spritze mit der anschließenden Beobachtungsphase – die gesamte Ärzteschaft bereit und in der Lage sei, die Massenimpfung einschließlich aller Nebenleistungen – unter den räumlichen Bedingungen einer konventionellen Kassenpraxis neben dem laufenden alltäglichen Praxisbetieb – zu übernehmen.

“ …. Pilotprojekte hätten gezeigt, dass es möglich sei, alle verfügbaren Impfstoffe auch in der hausärztlichen Praxis zu impfen. …“

Mit anderen Worten, Weigeldt sind die Impfzentren ein Dorn im Auge und er wünscht sich deren Abschaffung, denn die Hausärzte würden alles viel besser alleine bewerkstelligen. Die wissenschaftliche Qualität und Evidenz der von Weigeldt erwähnten Pilotprojekte (Plural!) würden mich im Detail interessieren, vor allem der wissenschaftlich fundierte Vergleich der Praxen mit den Impfzentren hinsichtlich der Einhaltung der Prioritätsvorgaben, der Abstands- und Hygieneregeln, sowie der Effizient und der Kosten.

„… Weswegen müssen wir jetzt warten? Auf was?“

Der Standesvertreter verträgt das Warten auf die Vergütung offensichtlich schlechter als die von der Infektion bedrohten Impflinge das Warten auf den rettenden Pieks.

Wenn er der Politik vorwirft, die Impfzentren zu privilegieren – was will er damit sagen? Er kann es offensichtlich nicht vertragen, dass die Politik die Ärzteschaft nicht wie gewohnt privilegieren will. So einfach ist es. Die Äußerungen des Standesvertreters sind Ausdruck von Populismus aus der untersten Schublade.

„Die Menschen würden sich aber lieber beim Hausarzt impfen lassen …“

Woher weiß der Hausarztvertreter das? Natürlich, weil er der Beste ist und weil er als Doktor grundsätzlich immer besser weiß, was für andere Menschen gut ist und was sich diese zu wünschen haben.

Saarbrücker Zeitung vom 11.03.2021:

… Er [Weigeldt] warnte dabei auch vor zu hohen bürokratischen Hürden für die Hausärzte beim Impfen. „Die Bedingungen dafür müssen so sein, dass die Impfungen gegen COVID-19, wie alle anderen Impfungen auch, in die hausärztliche Routine übergehen. Das heißt beispielsweise, dass es keine überbordende Bürokratie geben darf. Das wäre sonst so, als würde man beim Fahren gleichzeitig auf dem Gas und der Bremse stehen“, sagte Weigeldt.

saarbruecker-zeitung.de –

Abschaffung der Bürokratie – das klingt gut. Soll bedeuten: Abschaffung der Kontrolle. Meine verehrten Kollegen hassen Kontrolle wie der Teufel das Weihwasser – das ist das übliche Klagelied bei fast jedem Ärztestammtisch. Priorisierung (nach Entscheidungskriterien der Politik) ist lästig; viel besser scheint es, es den Ärzten allein zu überlassen, wen sie von Ihrer Kundschaft bevorzugen wollen – und wer würde sich als Patient nicht gerne bevorzugen lassen? Natürlich sind ihnen dann die bevorzugten Kunden sehr dankbar!

Die Unterscheidung zwischen der ‚Freiheit der Berufsausübung‘ als berufsrechtlich geregelte Vertrauens-Obliegenheit und willkürlicher Machtausübung nach Gutsherrenart als unterstelltes unantastbares Privileg wird nicht nur von vielen Kollegen nicht erkannt, sondern auch von den Standesvertretern gerne schlichtweg ignoriert.

Kollegenschelte?

Jawoll, ich bin nicht bereit, die populistische Irreführung meiner Standesvertreter kritiklos hinzunehmen. Ich bin nicht bereit, eine Entwicklung hinzunehmen, die den ärztlichen Berufsstand dem Verdacht aussetzt, sich an der Pandemie auf unredliche Weise – zu Lasten der Allgemeinheit zu bereichern.

Gegen diesen Verdacht hilft nur schonungslose öffentliche Transparenz der ökonomischen Bedingungen, unter denen die beteiligten Personen und Gruppen ihren Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise leisten und die Unterlassung einer populistischen Argumentation der verantwortlichen Entscheidungsträger.

Zum Glück habe ich mit einigen – nicht aber der überwiegenden Mehrheit – meiner ärztlichen und psychotherapeutischen Kolleg*Innen als Kollege und Mitarbeiter gute Erfahrungen gemacht; aber ich kann nicht behaupten, dass es – nach meiner persönlichen Bewertung, auch aus meiner eigenen Rolle als Patient – keine schwarzen Schafe in meiner Berufsgruppe gäbe. Zu viele sachlich falsche ‚Gefälligkeitsbescheinigungen‘ und ‚Atteste‘ sind mir in früheren Jahren als Chefarzt, ärztlicher Verbandsfunktionär und Prüfer vorgelegt worden, die ausschließlich den Zeck hatten, Patienten oder anderen interessierten Personen ein (ökonomisches) Privileg zu verschaffen. Von Patienten unter den Bedingungen der Ressourcenknappheit wegen einer ‚bevorzugten Behandlung‘ oder einer ‚begünstigenden Bescheinigung‘ bedrängt zu werden, gehört zum ärztlichen Berufsalltag („… können Sie hier nicht einmal eine Ausnahme machen …?“). Ich kann verstehen, dass die Verführung für einen Arzt groß ist, Patienten, zu denen man eine ‚gute‘ persönliche Beziehung hat, einen Vorteil zu verschaffen, den aber andere Personen oder die Allgemeinheit bezahlen müssen. Ich räume ein, dass ich nicht ausschließen kann, dass ich dieser Versuchung schon einmal durch Unachtsamkeit oder Irrtum erlegen bin; aber ich versichere, dass diese Strategie für mich als ‚Geschäftsmodell‘ noch nie in Betracht gekommen ist. Falls jemand andersartige Erfahrungen mit mir in meiner Berufsausübung gemacht haben sollte, bitte ich um eine eindeutige Rückmeldung!

(Nachtrag vom 21:03:2021:) Dass falsche ärztliche Atteste Raritäten sind ist ein Irrtum. HNA.de berichtet unter der Überschrift: Corona in Deutschland: Falsche Atteste für Corona-Gegner? Ärzte in der Kritik :

(…) Aber auch die Missachtung der Hygieneregeln in Arztpraxen sei neben sogenannten „Gefälligkeitsattests“ ein Thema. (…) Allein in Baden-Württemberg gingen nach Angaben der Landesärztekammer bis Februar 2021 circa 340 Beschwerden gegen Ärzte im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ein. Welche Bußen von der Landesärztekammer für solche Hinweise verhängt werden, unterscheide sich jedoch von Land zu Land. In vielen Bundesländern laufen derzeit Prüfungen und berufsrechtliche Ermittlungsverfahren gegen Ärzte.

HNA.de vom 21.03.2021

Nicht jede Beschwerde ist berechtigt. Ich selbst habe als Kammermitglied und Beschwerdeführer die Erfahrung gemacht, dass Beschwerden bei der für mich zuständigen Ärztekammer teilweise mit schlichter Untätigkeit beantwortet werden. 340 Beschwerden innerhalb von 2 Monaten bei einer Landesärztekammer könnten allerdings als ein Indikator angesehen werden, dass blindes Vorschussvertrauen und eine Approbation als Arzt allein nicht verhindert, dass ein Arzt eine Neigung zu korruptem Verhalten an den Tag legt.

Die Corona-Krise ist ein seltener ‚Testfall‘, der die beteiligten Personen – insbesondere diejenigen mit Strukturverantwortung – auf die Probe stellt. Die aktuellen Nachrichten (‚Maskenaffäre von Abgeodneten‘) zeigen, dass einige Politiker bei dieser Probe durchgefallen sind.

Es ist unerträglich, dass die Entscheidung über die Verteilung der u. U. lebensentscheidenden raren ‚Ressource Impfstoff‘ aus vorgeschobenen pragmatischen Gründen denjenigen als Einzelperson überlassen wird, die gleichzeitig die ökonomischen Nutznießer des Vollzugs ihrer eigenen Verteilungsentscheidung sind.

Die Erfahrungen mit dem Entscheidungsdilemma und den Fällen von korrupten Entscheidungen über die Zuteilung von Transplantationsorganen scheinen völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Die Analogie liegt aber auf der Hand; auch hierbei geht es um lebenserhaltende Entscheidungen und deren Vollzug unter extremem Zeitdruck. Montgomery (2015 – damals Präsident der Bundesärztekammer) via Bild: „Wir wollen das Vier-Augen-Prinzip einführen, bei dem ein unabhängiger Arzt feststellen muss, wie krank der Empfänger wirklich ist, damit die Liste nicht mehr gefälscht werden kann.“

Das ist der Grund, warum ich eine unabhängige Kontrolle der ärztlichen Tätigkeit in vielerlei Hinsicht für unabdingbar halte, auch wenn diese Kontrolle nicht nur unangenehm und lästig ist, sondern auch oft sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Wer sich dieser Kontrolle nicht unterwerfen will, sollte seine Approbation zurückgeben.

Das Schutzbedürfnis liegt bei den Impflingen und nicht bei einer ohnehin privilegierten Berufsgruppe. Allem Anschein droht die politische Führung und die Presse in Deutschland den Lobbyisten der Ärzteschaft – wieder einmal – auf den Leim zu gehen. Ich bin gespannt, wann die ersten Meldungen über das Kursieren von Corona-Impfstoffen auf dem Schwarzmarkt in Deutschland die Runde machen. Schöne Grüße vom Methadon-Schwarzmarkt.

Der Engpass der Corona-Massenimpfung liegt nicht darin, dass die zeitnahe Verimpfung in gut und vernünftig ausgestatteten oder noch kurzfristig auszustattenden Impfzentren nicht organisierbar sei, sondern jetzt und mittelfristig in den Produktions- und Lieferengpässen der Impfstoffe; daran können die Hausärzte auch nichts ändern. Der Vergleich mit den Bedingungen anderer Impfungen unter Nicht-Pandemiebedingungen (z. B. saisonale Grippeimpfung) ist völlig abwegig.

PS:

Wer das unglaubliche Privileg genießt, mich (denjenigen der im Impressum dieser Seite angegeben ist) persönlich zu kennen und dazu auch noch meine persönliche Mailadresse kennt, die/der kann mir gerne mitteilen, dass er/sie in meinen Verteiler aufgenommen werden möchte, um über neue Beiträge auf dieser Webseite per Mail informiert zu werden.

Gerne nehme ich auch von anderen Schriftgelehrten Beiträge auf, die zu dieser Seite passen; Meinungsvielfalt und Kritik sind gefragt– allerdings unter der Bedingung, dass der/die Autor/in einverstanden ist, im Zusammenhang mit einem Beitrag namentlich genannt zu werden!

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