Die Politik zieht die Notbremse

Der Missbrauch ist strafbar – gemeint ist die Betätigung des Hebels einer Notbremse ohne rechtfertigenden Grund.

Der Missbrauch des Begriffs ‚Notbremse‘ ist nicht strafbar

und vor Allem auch dann nicht, wenn er von Politikern oder der Presse ohne rechtfertigenden Grund verwendet wird.

Der begriffliche Missbrauch ist vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt.

Die Betätigung des Hebels in einem Zug führt dazu (wenn das System ‚Notbremse‘ nicht versagt), dass der Zug außerplanmäßig – gegebenenfalls auf freier Strecke – per Vollbremsung zum Stehen kommt, ohne dass derjenige (z. B. jeder beliebige Fahrgast eines Zuges), der den Hebel betätigt, vorher

  • die rechtlichen Voraussetzungen ermitteln muss,
  • beim Verkehrsunternehmen eine Genehmigung für die Bremsung einholen muss,
  • eine Abstimmung mit den anderen Fahrgästen und dem Zugpersonal in die Wege einleiten muss,
  • sonstige Vorkehrungen treffen muss, um die mutmaßlichen Folgen der Geschwindigkeitsverzögerung abzumildern, die für andere Beteiligte eintreten könnten.

Der rechtfertigende Grund für eine Notbremsung ist ein eingetretener oder zu erwartender Notfall, der mutmaßlich nicht auf einem anderen Wege abgewendet werden kann. Ein Notfall könnte z. B. eine Bedrohung von Leib und Leben einer oder mehrerer Personen sein, nicht aber zum Beispiel eine Störung der Internetverbindung im Fahrgastraum oder wenn außerhalb des Zuges mit einem Schadensereignis zu rechnen ist.

Die Geschwindigkeitsverzögerung eines Zuges, in dem eine Person die Notbremsung eingeleitet hat, besteht nicht darin, dass der Lokführer nur den ‚Fuß vom Gas nimmt‘, den Strom abschaltet, oder sich zunächst über die arbeitsvertraglichen Bedingungen seines Dienstverhältnisses informiert, sondern dass es automatisch und ohne Zeitverzug zu einer maximalen Vollbremsung des Zuges bis zum Stillstand kommt.

Wer erstmalig auf die Idee gekommen ist, den Begriff ‚Notbremse‘ im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zu verwenden, ist dem Verfasser diese Beitrags nicht bekannt; dieser Begriff wird aber sowohl von den Presseorganen als auch von den Politikern in öffentlichen Verlautbarungen seit einiger Zeit mit Selbstverständlichkeit benutzt.

Man könnte natürlich einwenden, dass es völlig egal ist, was Politiker sagen und was die Presse über Politikeraussagen öffentlich in Umlauf bringt; am nächsten Tag kann sich sowieso keiner mehr daran erinnern und die nächste Sau steht schon bereit, durchs Dorf getrieben zu werden.

Jedenfalls ist festzustellen, dass zwar schon seit geraumer Zeit der Begriff Notbremse im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie verwendet wird, dass aber eine Bremswirkung auf die Kennzahlen der Ausbreitung des Corona-Virus (Neuinfektionsrate, Todesfallrate, Belegung der Intensivstationen etc.) nicht erkennbar ist, sondern dass man eher von einer Beschleunigung der gerechten Teilhabe am Infektionsgeschehen der Bürgerinnen und Bürger sprechen kann. Es wäre ja auch ungerecht und verfassungsmäßig bedenklich, wenn man einem mündigen Bürger oder einer mündigen Bürgerin grundsätzlich die Chance auf eine Infektion oder die Erfahrung als Beatmungspatient oder Beatmungspatientin in einer Intensivstation grundsätzlich vorenthalten würde.

Aber vielleicht haben die Politiker und Politikerinnen aller Parteien die Ausbreitung der Covid-19-Infektionen mit der Effektivität ihres Krisenmanagements und des politischen Handelns verwechselt. Es hat den Anschein, dass seit der medialen und politischen Benutzung des Begriffs „Notbremse“ das Krisenmanagement der politischen Führung auf allen Ebenen des föderalen Systems in Deutschland einschließlich der Verbandsvertreter und -Vertreterinnen der medizinischen Versorgung und der Wirtschaftselite per Vollbremsung wirksam zum Stillstand gekommen ist.

Es scheint unausweichlich zu sein, dass die politische Führung bis auf Weiteres für vernünftige politische Entscheidungen nicht mehr zur Verfügung steht. Die wechselseitige Selbstzerlegung der Parteien und die Zerfleischung des politischen Führungspersonals nebst der Entsorgung ausgemusterter Parlamentarier bindet mittelfristig alle Kräfte der sogenannten politischen Elite. Es scheint opportun zu sein, die politischen Entscheidungen Talkshows, Umfrageinstituten und Goldgrabenden (Wirtschaftsverbände, Lobbyisten, kreative Doppelagenten und andere Institute mit besonders hohem Wertschöpfungspotential) zu überlassen. Die unaufhaltsamen Höhenflüge der Aktienkurse korrelieren mit der Lautstärke des Jammerns von Verbandsvertretern über den nahenden wirtschaftlichen Untergang des Abendlandes. Das immer wieder frisch gedruckte Geld sucht sich den Weg des geringsten Widerstandes, um schließlich in sog. Steuerparadiesen zu versacken.

Es war nicht zu erwarten, das es der politischen Führung so schnell, effektiv und mutmaßlich nachhaltig gelingen könnte, ihre eigene Wirksamkeit zu paralysieren.

Nach längerem Nachdenken muss ich einräumen, dass es doch zu erwarten war; im Nachhinein ist man immer schlauer. Den Hebel einer Notbremse gibt es nämlich in Wirklichkeit doch nur in Zügen, Aufzügen und in der Nähe von Rolltreppen. Das Covid-19-Virus ist jedenfalls nicht mit einem solchen Hebel ausgestattet und im Übrigen gibt es mehr Viren als verfügbare Hände, die irgendwo dran ziehen könnten. Die Politiker können deswegen auch nicht an irgendeinem Hebel ziehen; sie können nur über Hebel, Bremsen und andere mechanische Sachverhalte reden, ohne die geringste Ahnung von Mechanik oder Massenpsychologie zu haben. Sie können nur reden und heiße Luft verbreiten, was auch durch FFP2-Masken nicht zu verhindern ist. Das ist nicht wirklich neu, wird aber unter den aktuellen Krisenbedingungen besonders deutlich.

Immerhin wird für Unterhaltung gesorgt:

Tagesschau.de titelt am 13.04.2021: Europaweit unseriöse Angebote

Corona-Impfstoff ist weiterhin knapp – private Vermittler versprechen europäischen Behörden Abhilfe, vorbei an den offiziellen Beschaffungswegen. Auch das Bundesgesundheitsministerium und mehrere Bundesländer erhielten Angebote. (…)

Geplant war demnach offenbar ein direkter Deal zwischen einer Regionalregierung und AstraZeneca, eingefädelt über private Vermittler, abgewickelt über ein komplexes Firmengeflecht. Der Deal kommt nicht zustande, inzwischen hat die Staatsanwaltschaft in Perugia Ermittlungen wegen Betrugsverdachts eingeleitet. (…)

Auch dem deutschen Gesundheitsministerium werden immer wieder Impfstoffe verschiedener Hersteller angeboten, bestätigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vergangene Woche in Berlin: „Es ist ein bisschen wie in dieser Pandemie immer wieder mit verschiedenen Produkten: Es entsteht dann so eine Goldgräberstimmung.“

(…) Geflecht um Stuttgarter Geschäftsmann – Hinter dem geplanten Deal in Apulien steckt ein kompliziertes Geflecht von beteiligten Unternehmen: Eine zentrale Figur ist offenbar ein Arzt aus Stuttgart. Er trat dabei als Geschäftsführer einer Schweizer Firma auf, die seiner Tochter gehört. (…)

Tagesschau.de vom 13.04.2021

Man könnte es auch so ausdrücken: Der Schwarzmarkt wird von Impfstoffen geflutet. … Goldgräberstimmung … Woher diese Impfdosen wohl kommen, oder handelt es sich um Fälschungen? Der gesamte Beitrag der tageschau.de ist lesenswert! Dazu auch mein alter Beitrag „Corona-Impfstoff – wann“ 15.06.2020. Wer hätte denn damit gerechnet?

Wer noch mehr spannende Geschichten von dem Corona-Unterwelt-Krimi lesen will, wird in der Rubrik tagesschau.de/investigativ/ fündig.

Impfzentren! – Weg damit. So etwas braucht keiner.

aerzteblatt.de vom 07.04.2021: Corona: KV Baden-Württemberg startet Petition zur Abschaffung von Impfzentren .

Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) hat eine bundesweite Petition gestartet, die Bund und Länder aufruft, die Coronaimpfungen von den Impfzentren auf die Praxen der niedergelassenen Ärzte zu verlagern.

(…) Die zentralen Impfzentren sollten bis auf wenige notwendige Einrichtungen geschlossen und die Im­pfun­gen auf die Arztpraxen verlagert werden mit Erstattung des situationsadäquaten Aufwands. (…)

aerzteblatt.de vom 07.04.2021

Könnte des sein, dass die Goldgräberstimmung noch ansteckender ist wie die britische Corona-Variante und sich selbst die Ärzte nicht gegen eine solche Infektion schützen können.

Hoffentlich sind die sind wenigstens die Politiker durch die Parlamentarische Immunität vor einer Infektion durch das Goldgrabenden-Virus geschützt.

Minister Spahn hatte schon im Juni 2020 Verständnis für die vom Goldgrabenden-Virus infizierte Ärzte geäußert:

KVN fordert Abschaffung der Regresse
Die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN) begrüßt die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn angekündigte Lockerung der Kontrollen in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit ärztlicher Verordnungen im Terminservice-​ und Versorgungsgesetz (TSVG). Die KVN kritisiert allerdings, dass die Regresse weiterhin Bestand haben sollen. (…)

„Deshalb ist die Politik gut beraten, den Nachwuchs nicht mit immer neuen gesetzlichen Vorgaben und Eingriffen von einer Niederlassung abzuschrecken. (…)“

Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen: Pressemeldung vom 05.06.2020

Es ist für unschuldig vom Goldgrabenden-Virus infizierte und deshalb zwangsläufig hauptberufliche Goldgräber und Goldgräberinnen eine Zumutung, wenn sie durch gesetzliche Vorgaben und Eingriffe bei ihrer Wert-schöpfenden Tätigkeit behindert werden. Das gilt natürlich erst recht für Recht-schaffende Politiker und Politikerinnen.

Rein in die Arztpraxen – da ist man wenigstens nicht allein!

Es war voraus zu sehen. Der Start der Covid-19-Impfungen in den Arztpraxen am Osterdienstag, den 06.04.2021 war ein voller Erfolg.

In den Nachrichtensendungen wurde es gezeigt:

26 Impfdosen pro Praxis – eine Riesenmenge – aber es werden noch viel mehr.

Jetzt geht es richtig los.

Die Hausarztpraxen werden zu Hotspots. Die Telefonleitungen der Praxen laufen heiß; die jüngeren Patienten drängen auf Impftermine, die Praxishelferinnen haben jetzt alle Hände voll zu tun, die Leute abzuwimmeln; und dabei dann noch auf die Priorisierung achten – eine echte Herausforderung – aber Priorisierung ist doch auch nicht wirklich nötig. Die Patienten drängen sich in den Eingangsfluren, bevor der Arzt in die Praxis kommt. Oh je, wenn jetzt noch ein Notfall in der Praxis vorkommt, geht die Post erst richtig ab. Vor den Anmeldetresen tummeln sich die Patienten wie an den Wühlständen beim Winterschlussverkauf – na ja, vielleicht nur deshalb, weil auch die Fernsehleute dabei sind um zu filmen.

Herr Minister Spahn kündigt mit stolzgeschwellter Brust an, dass das ja erst der Anfang sei. Die Lieferquoten für die Arztpraxen sollen in der nächsten Zeit noch deutlich gesteigert werden, damit es in den Praxen so richtig voll wird. Dass es bei der Anlieferungen der Impfdosen durch die Apotheken noch ‚rumpelt‘ macht doch nichts – das wird schon. Wenn dann doch nicht so viel Impfstoff geliefert wird wie bestellt wurde, kann der Hausarzt ja jeder/m erklären, warum der zugesagte Impftermin nicht eingehalten wird und andere Impflinge ‚wichtiger‘ sind .

In dem Impf-Rummel einer gewöhnlichen Praxis ist man dann auch den anderen Patienten so richtig nahe. Wenn man in die Praxis nicht mehr reinkommt, weil sie einfach zu voll ist, trifft man sich eben in der Warteschlange auf der Straße; das kennt ja jeder schon von überfüllten Gaststätten (Denk dran: Getränke bitte selbst mitbringen!). Eine Wohltat nach dem Lock-Down, wenn man schon nicht in ein Restaurant gehen darf, ist wenigstens in einer Praxis was los – es geht eben nichts um eine gemütliche, drangvolle Enge.

Wozu benötigt man denn noch die Impfzentren? Die könnte man doch sowieso schließen, denn manche arbeiten sowieso nur zu Bürozeiten. In den großen Hallen der Impfzentren, wo man keinen kennt und nur fremde Leute rumlaufen, kommt man sich so verloren und einsam vor, richtig ungemütlich. Und vor den Impfzentren gibt es manchmal nicht nur lange Warteschlangen, sondern auch noch Aufpasser, die einen davon abhalten, dass man anderen Zeitgenossen zu nahe tritt.

Und dann auch noch die Idee von Frau Kramp-Karrenbauer: 28 Impfzentren der Bundeswehr. Die sollen tatsächlich rund um die Uhr arbeiten. Wer will sich denn tatsächlich nach Einbruch der Dunkelheit noch impfen lassen – und dann auch noch in einer Kaserne von Soldaten? Unzumutbar! Wo sind wir denn hier?

Aufgepasst! Wer sportlich und kreativ ist, kommt sehr bald zu seiner Biontech-Impfung:

Der geänderten Impfverordnung des Bundes vom 8. März zufolge kann ohnehin von der Reihenfolge abgewichen werden, „wenn dies für eine effiziente Organisation der Schutzimpfungen oder eine zeitnahe Verwendung vorhandener Impfstoffe notwendig ist, insbesondere um den Verwurf von Impfstoffen zu vermeiden“. Das gilt für Impfzentren und Hausärzte gleichermaßen, doch in den Praxen dürfte das zügiger getan werden: Ist abends noch Impfstoff (aus geöffneten Fläschchen) übrig, werden die versorgt, die eben wollen – auch Jüngere.

Tagesspiegel von 05.04.2021

So wie man zu einem Last-Minute-Flug billig in den Urlaub kommt, kommt man auch schnell zu seiner Impfung. Man nimmt einfach „den Rest vom Schützenfest“. Und wenn der Doktor nur genug Impffläschchen geöffnet hat, ist auch genug für alle da.

Wie einfach die Impfung für die Hausärzte und Patienten ist sieht man hier:

https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/coronavirus/Erste-Lieferungen-in-Praxen-eingetroffen-Ab-Mittwoch-wird-geimpft,hausaerzte124.html